Freitag, 20. November 2015

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Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, hatte ich ein denkwürdiges Erlebnis:
Ich war allein zu Hause. Es war Mittag und es war ganz still. Es war heiß und ich wollte hinaus auf den Hof gehen. Dazu ging ich eine drei- stufige Treppe hinunter, die zum Flur führte. Gegenüber der Treppe war ein Spiegel angebracht. Ein mittelgroßer, quadratischer Spiegel mit einem dünnen Rahmen aus vergoldeten Zierleisten, an dem ich sicher mehrmals am Tag vorbei lief, ohne mich darin anzusehen.
An diesem Mittag blieb ich auf der zweiten Stufe der Treppe stehen und sah mich ausführlich in diesem Spiegel an. Ich betrachtete mein Gesicht und die Teile meines Körpers, die ich im Spiegelglas sehen konnte. Das war der erste Moment in dem mir bewusst wurde, dass dieser Körper ICH war. Und dass dieser Körper sterblich war. Genauso wie die Körper meiner Mutter, meines Vaters, meiner Brüder sterblich waren. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl tief zu fallen. Der Gedanke, dass ICH ein Körper war, den ich im Spiegel betrachten konnte, der mir zur gleichen Zeit sehr fremd und sehr vertraut vorkam, den ich mit den Augen des „ICH- SEIN“ betrachten oder aber auch mit den Augen eines „Außen“ sehen konnte; dass ICH in dem Körper mit dem Körper sterben würde (so dachte ich damals) und dass ich seiner Willkür ausgeliefert war erschien mir ungeheuerlich und zog mir den Boden unter den Füßen weg.


Ich habe oft die Menschen beneidet, die den Tod einfach nicht sehen (wollen), die die Angst  davor wegschieben können wie einen ungebetenen Gast. Ich konnte das nie. Der Gedanke an den Tod, an die Vergänglichkeit begleitete mich bis etwa zu meinem dreißigsten Lebensjahr.

Im Nachhinein erscheint es mir, als hätte ich mich sehr früh von der Welt zurückgezogen. Dabei spielen sicher noch andere Aspekte eine Rolle, zum Beispiel die unverarbeiteten Kriegstraumata meiner Großeltern die an meine Eltern und über sie an mich weitergegeben wurden; die Tatsache, dass ich bindungsunsicher aufwuchs und vielleicht auch dass meine Mutter Landärztin war und seit ich ein Kind war am Essenstisch darüber redete, was sie auf Leichenschauen erlebt hatte und wie die Menschen um sie herum einfach so oder auch an einer Krankheit mal langsam, mal schnell starben.

Ich denke niemand ist in seiner Kindheit und Jugend, also in der prägendsten Zeit verschont geblieben von mehr oder weniger traumatischen Erlebnissen.
Zum Glück sind Menschen kreativ und suchen instinktiv nach Strategien um das Leben zu sichern.
Meine war, mich von der Welt zurückzuziehen. Das Leben erschien mir als etwas, wovor man Angst haben musste, in dem man unsicher war, „geborgen im Ungeborgenen“.
Halt fand ich in Geschichten, in Romanen und im Schreiben.
In dem ich die Geschichten anderer las, fühlte ich mich getröstet, entdeckte die Vielfalt der menschlichen Seele, sah in Abgründe ohne sie selbst zu erleben und doch mitzugehen. Ich staunte über die Entwicklung bestimmter Figuren, studierte die verschiedensten Möglichkeiten zu leben. Verlor mich in den wildesten Abenteuern- alles ohne selbst zu leben.

Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Leben.

In meiner Jugend fing ich an zu schreiben. Zunächst Gedichte, später hauptsächlich Kurzgeschichten. In den Geschichten fühlte ich mich sehr lebendig.
Ich denke ich schrieb, weil ich verstehen wollte, eine Ordnung schaffen in dem Chaos, das mich umgab. Ich umkreiste beim Schreiben meinen inneren Kern, konnte abdriften, zurück kehren, kreierte Anfänge und Ausgänge. Vielleicht fühlte ich mich so sicher, weil ich es war, die die Geschichte bestimmte. Die die Kontrolle behielt. Die dem Leben nicht mehr schutzlos ausgeliefert war, nicht seiner Willkür, nicht seinen vielen Möglichkeiten.
In dem ich schrieb, lebte ich und in dem ich lebte, starb ich nicht.
Das, so schätze ich, war die unbewusste Strategie, um den Tod bzw. die Angst vor dem Tod zu überwinden.
Diese Haltung bzw. diese Strategie schließt eine gewisse Starre nicht aus. In dem ich meine Lebendigkeit nur in den Geschichten lebe, kann ich nie genau wissen, wie sich etwas wirklich anfühlt.
Ich hatte Sehnsucht danach zu wissen, wie das ist mit dem Fühlen. Diese Sehnsucht führte mich durch die tiefsten Tiefen und durch wunderschöne Höhen, durch Schmerz, Trauer, Liebe. Ich begegnete meiner Angst und meinem Misstrauen. Ich verletzte auf diesem Weg andere Menschen, ich spürte meine tiefsten Wunden. Manchmal bereute ich es, nicht mehr in meiner „Blase“ zu sein. Aber ich kehrte nie wieder in sie zurück.

Mittlerweile hat sich die Sicht auf den Spiegel verändert. Es ist nicht mehr der Spiegel im Flur meiner Kindheit.
Meine Spiegel sind Menschen, Umstände, Bäume, Pflanzen, der Himmel. In dem ich sie anschaue, reflektieren sie auch immer jenen Teil von mir, den ich in ihnen sehen kann. Den ich liebe oder den ich ablehne.
Ich schaue in die Spiegel und erkenne mich. Immer mehr.
Ich schreibe Geschichten. Ich sehe meinen Figuren nicht mehr nur zu, ich beginne sie zu fühlen.
Der Unterschied, nicht aus der Angst heraus zu schreiben, sondern aus dem Herzen ist, dass es die Lebendigkeit nicht mehr ausschließt, ebenso wenig wie die Angst vor dem Tod und vor der Vergänglichkeit. Sie existieren nebeneinander und sind Teil ein und derselben Sache: des Lebens.









Freitag, 13. November 2015

Alter Sommer

Der Sommer war alt& lang.
Wir atmeten das Licht. Innen und Außen.
Im Ungeborgenen geborgen-  ist nicht mehr wahr.
Der See. Sanft. Da wo ich geboren bin.
Ist lange her. So nah. So nah.