Als ich etwa
neun oder zehn Jahre alt war, hatte ich ein denkwürdiges Erlebnis:
Ich war allein
zu Hause. Es war Mittag und es war ganz still. Es war heiß und ich
wollte hinaus auf den Hof gehen. Dazu ging ich eine drei- stufige Treppe
hinunter, die zum Flur führte. Gegenüber der Treppe war ein Spiegel angebracht.
Ein mittelgroßer, quadratischer Spiegel mit einem dünnen Rahmen aus vergoldeten
Zierleisten, an dem ich sicher mehrmals am Tag vorbei lief, ohne mich darin
anzusehen.
An diesem Mittag
blieb ich auf der zweiten Stufe der Treppe stehen und sah mich ausführlich in
diesem Spiegel an. Ich betrachtete mein Gesicht und die Teile meines Körpers,
die ich im Spiegelglas sehen konnte. Das war der erste Moment in dem mir
bewusst wurde, dass dieser Körper ICH war. Und dass dieser Körper sterblich
war. Genauso wie die Körper meiner Mutter, meines Vaters, meiner Brüder
sterblich waren. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl tief zu fallen.
Der Gedanke, dass ICH ein Körper war, den ich im Spiegel betrachten konnte, der
mir zur gleichen Zeit sehr fremd und sehr vertraut vorkam, den ich mit den
Augen des „ICH- SEIN“ betrachten oder aber auch mit den Augen eines „Außen“
sehen konnte; dass ICH in dem Körper mit dem Körper sterben würde (so dachte
ich damals) und dass ich seiner Willkür ausgeliefert war erschien mir
ungeheuerlich und zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Ich habe oft die
Menschen beneidet, die den Tod einfach nicht sehen (wollen), die die Angst davor wegschieben können wie einen
ungebetenen Gast. Ich konnte das nie. Der Gedanke an den Tod, an die
Vergänglichkeit begleitete mich bis etwa zu meinem dreißigsten Lebensjahr.
Im Nachhinein
erscheint es mir, als hätte ich mich sehr früh von der Welt zurückgezogen.
Dabei spielen sicher noch andere Aspekte eine Rolle, zum Beispiel die
unverarbeiteten Kriegstraumata meiner Großeltern die an meine Eltern und über
sie an mich weitergegeben wurden; die Tatsache, dass ich bindungsunsicher
aufwuchs und vielleicht auch dass meine Mutter Landärztin war und seit ich ein
Kind war am Essenstisch darüber redete, was sie auf Leichenschauen erlebt hatte
und wie die Menschen um sie herum einfach so oder auch an einer Krankheit mal langsam, mal schnell starben.
Ich denke
niemand ist in seiner Kindheit und Jugend, also in der prägendsten Zeit
verschont geblieben von mehr oder weniger traumatischen Erlebnissen.
Zum Glück sind
Menschen kreativ und suchen instinktiv nach Strategien um das Leben zu sichern.
Meine war, mich
von der Welt zurückzuziehen. Das Leben erschien mir als etwas, wovor man Angst
haben musste, in dem man unsicher war, „geborgen im Ungeborgenen“.
Halt fand ich in
Geschichten, in Romanen und im Schreiben.
In dem ich die Geschichten
anderer las, fühlte ich mich getröstet, entdeckte die Vielfalt der menschlichen
Seele, sah in Abgründe ohne sie selbst zu erleben und doch mitzugehen. Ich
staunte über die Entwicklung bestimmter Figuren, studierte die verschiedensten
Möglichkeiten zu leben. Verlor mich in den wildesten Abenteuern- alles ohne
selbst zu leben.
Die Angst vor
dem Tod ist die Angst vor dem Leben.
In meiner Jugend
fing ich an zu schreiben. Zunächst Gedichte, später hauptsächlich
Kurzgeschichten. In den Geschichten fühlte ich mich sehr lebendig.
Ich denke ich
schrieb, weil ich verstehen wollte, eine Ordnung schaffen in dem Chaos, das
mich umgab. Ich umkreiste beim Schreiben meinen inneren Kern, konnte abdriften,
zurück kehren, kreierte Anfänge und Ausgänge. Vielleicht fühlte ich mich so
sicher, weil ich es war, die die Geschichte bestimmte. Die die Kontrolle
behielt. Die dem Leben nicht mehr schutzlos ausgeliefert war, nicht seiner
Willkür, nicht seinen vielen Möglichkeiten.
In dem ich
schrieb, lebte ich und in dem ich lebte, starb ich nicht.
Das, so schätze
ich, war die unbewusste Strategie, um den Tod bzw. die Angst vor dem Tod zu
überwinden.
Diese Haltung
bzw. diese Strategie schließt eine gewisse Starre nicht aus. In dem ich meine
Lebendigkeit nur in den Geschichten lebe, kann ich nie genau wissen, wie sich
etwas wirklich anfühlt.
Ich hatte
Sehnsucht danach zu wissen, wie das ist mit dem Fühlen. Diese Sehnsucht führte
mich durch die tiefsten Tiefen und durch wunderschöne Höhen, durch Schmerz,
Trauer, Liebe. Ich begegnete meiner Angst und meinem Misstrauen. Ich verletzte
auf diesem Weg andere Menschen, ich spürte meine tiefsten Wunden. Manchmal
bereute ich es, nicht mehr in meiner „Blase“ zu sein. Aber ich kehrte nie
wieder in sie zurück.
Mittlerweile hat
sich die Sicht auf den Spiegel verändert. Es ist nicht mehr der Spiegel im Flur
meiner Kindheit.
Meine Spiegel
sind Menschen, Umstände, Bäume, Pflanzen, der Himmel. In dem ich sie anschaue,
reflektieren sie auch immer jenen Teil von mir, den ich in ihnen sehen kann.
Den ich liebe oder den ich ablehne.
Ich schaue in
die Spiegel und erkenne mich. Immer mehr.
Ich schreibe
Geschichten. Ich sehe meinen Figuren nicht mehr nur zu, ich beginne sie zu
fühlen.
Der Unterschied, nicht aus der Angst heraus zu schreiben, sondern aus dem Herzen ist, dass es
die Lebendigkeit nicht mehr ausschließt, ebenso wenig wie die Angst vor dem Tod
und vor der Vergänglichkeit. Sie existieren nebeneinander und sind Teil ein und
derselben Sache: des Lebens.