Dienstag, 22. März 2016

Neun Seiten

Am Morgen findest du einen Brief, du glaubtest ihn längst verloren, denn immer wenn du ihn suchtest, war er nirgends zu finden.
Dann ziehst du um, weg aus der Stadt, die dich auch ein Stück weit mit dem Mann verbindet, der dir den Brief schrieb. Nein, kein Stück weit, sondern ziemlich viele Jahre deines Lebens. Verbunden. Aneinander gebunden. Manchmal kam es euch vor wie Fesseln.
Du findest diesen Brief, du berührst ihn, klappst ihn auseinander, du weißt sofort, dass es neun Seiten sind. Neun Seiten vor denen du Angst hast. Sofort! Du klappst ihn auseinander, Geruch nach Papier, du liest: ein, zwei Sätze. Du klappst ihn zu. Später wieder auf. Du machst dich gefasst auf schlimme Sätze, verletzende Sätze. Du denkst du weißt was in dem Brief steht, seit Jahren denkst du das. Du denkst, dass es wahr ist und bekämpfst deine Angst vor den Worten. Du fängst an zu lesen. Am Anfang sehr schnell, bis sich etwas in dir entspannt und du langsamer wirst. Du liest und liest weiter. Du siehst sein Gesicht und hörst seine Stimme.
Dann das Ungeheuerliche: dieser Brief vor dem du jahrelang Angst hattest erzählt von einem Menschen, der dich sehr geliebt hat, von seiner Traurigkeit, seinen Verletzungen, seiner Wut und seiner Liebe, die sehr verzweifelt ist. Und von einem Traum, in dem du aus dem Fenster fällst und seine Hand dich nicht mehr erreichen kann. Mehr nicht. Er klagt dich nicht an, er beschimpft dich nicht.
Dir wird klar, dass dieser Brief all die Jahre ein anderer für dich war, genauso wie der Mensch der ihn schrieb. Dass du seine Verletzungen nicht sehen und oft auch nicht achten konntest, weil du selbst so verletzt warst. Dass noch keine Haut darüber gewachsen war, die Wunde ungestillt und wütend aus dir hervor gebrochen ist damals, weil sie endlich einen Grund hatte wieder aufzubrechen.
Und dass sie auch nach ihm immer noch aufbricht, die Haut darüber aber fester wird, aber so lange aufbricht, bis du ihr selbst deine Liebe schenkst.

Er schrieb: Wie traurig wäre es, wenn wir uns für immer verlieren würden?!

Letzte Nacht hatte ich einen Traum:
Eine Schamanin forderte mich auf mit einer ihrer Schülerinnen in Kontakt zu gehen, um ihr bei einer Aufgabe, die sie ihr gestellt hatte zu helfen. Es war eine Art Prüfung für die Schülerin.
Ich wollte mein Bestes geben und fing an sie zu animieren, mir wie in einem Spiel zu folgen. Ich wollte, dass wir ein Versteckspiel inszenierten, eine Art Theaterstück. Ich lief und lief so schnell ich konnte, stieß mich von den  Wänden ab und fand es sehr anstrengend, aber ich hörte nicht auf zu laufen. Plötzlich schrie die Schamanin „STOP IT“. Sie zog mich vor die Schülerin, die schon die ganze Zeit still und unbeweglich an einer Stelle gesessen hatte. Sie sagte „Look at her face!“ Und ich schaute sie an, in dieses schöne, unbewegte Gesicht. Unter ihrem rechten Auge hingen fest getackert silberne Tränen. Ich wusste, dass sie dort für immer bleiben würden, aber dass das nicht schlimm war.
Die Schamanin sagte: „It’s just your mirror.“

Ja und es ist traurig. 
Sehr traurig.
Es tut mir leid.

(Bild "Les amants" René Magritte)