Am Morgen findest du einen Brief,
du glaubtest ihn längst verloren, denn immer wenn du ihn suchtest, war er
nirgends zu finden.
Dann ziehst du um, weg aus der
Stadt, die dich auch ein Stück weit mit dem Mann verbindet, der dir den Brief
schrieb. Nein, kein Stück weit, sondern ziemlich viele Jahre deines Lebens.
Verbunden. Aneinander gebunden. Manchmal kam es euch vor wie Fesseln.
Du findest diesen Brief, du berührst
ihn, klappst ihn auseinander, du weißt sofort, dass es neun Seiten sind. Neun
Seiten vor denen du Angst hast. Sofort! Du klappst ihn auseinander, Geruch nach
Papier, du liest: ein, zwei Sätze. Du klappst ihn zu. Später wieder auf. Du
machst dich gefasst auf schlimme Sätze, verletzende Sätze. Du denkst du weißt
was in dem Brief steht, seit Jahren denkst du das. Du denkst, dass es wahr ist
und bekämpfst deine Angst vor den Worten. Du fängst an zu lesen. Am Anfang sehr
schnell, bis sich etwas in dir entspannt und du langsamer wirst. Du liest und
liest weiter. Du siehst sein Gesicht und hörst seine Stimme.
Dann das Ungeheuerliche: dieser
Brief vor dem du jahrelang Angst hattest erzählt von einem Menschen, der dich
sehr geliebt hat, von seiner Traurigkeit, seinen Verletzungen, seiner Wut und
seiner Liebe, die sehr verzweifelt ist. Und von einem Traum, in dem du aus dem Fenster
fällst und seine Hand dich nicht mehr erreichen kann. Mehr nicht. Er klagt dich
nicht an, er beschimpft dich nicht.
Dir wird klar, dass dieser Brief
all die Jahre ein anderer für dich war, genauso wie der Mensch der ihn schrieb.
Dass du seine Verletzungen nicht sehen und oft auch nicht achten konntest, weil
du selbst so verletzt warst. Dass noch keine Haut darüber gewachsen war, die
Wunde ungestillt und wütend aus dir hervor gebrochen ist damals, weil sie
endlich einen Grund hatte wieder aufzubrechen.
Und dass sie auch nach ihm immer
noch aufbricht, die Haut darüber aber fester wird, aber so lange aufbricht, bis du
ihr selbst deine Liebe schenkst.
Er schrieb: Wie traurig wäre es, wenn wir uns für immer verlieren würden?!
Letzte Nacht hatte ich einen Traum:
Eine Schamanin forderte mich auf
mit einer ihrer Schülerinnen in Kontakt zu gehen, um ihr bei einer Aufgabe, die
sie ihr gestellt hatte zu helfen. Es war eine Art Prüfung für die Schülerin.
Ich wollte mein Bestes geben und
fing an sie zu animieren, mir wie in einem Spiel zu folgen. Ich wollte, dass
wir ein Versteckspiel inszenierten, eine Art Theaterstück. Ich lief und lief so schnell ich konnte, stieß mich von den Wänden ab und fand es sehr anstrengend, aber ich hörte nicht
auf zu laufen. Plötzlich schrie die Schamanin „STOP IT“. Sie zog mich vor die
Schülerin, die schon die ganze Zeit still und unbeweglich an einer Stelle
gesessen hatte. Sie sagte „Look at her face!“ Und ich schaute sie an, in dieses
schöne, unbewegte Gesicht. Unter ihrem rechten Auge hingen fest getackert
silberne Tränen. Ich wusste, dass sie dort für immer bleiben würden, aber dass
das nicht schlimm war.
Die Schamanin sagte: „It’s just
your mirror.“
Ja und es ist traurig.
Sehr traurig.
Es tut mir leid.