Mittwoch, 30. Dezember 2015

gehen.



Ich ging mit dir durch einen Wald. Nein, es war nicht irgendein Wald. Es war der Wald,
durch den wir immer gehen, wenn ich bei dir bin. Es ist ein Knorpelkiefernwald. Die
Bäume sind windschief, denn nicht weit davon ist das salzige Meer. Wenn ich bei dir bin
möchte ich immer den gleichen Weg mit dir gehen. Entlang des kleinen Flusslaufs, der
im Winter zugefroren ist und in heißen Sommern kaum Wasser trägt.
Wir gingen also diesen Weg entlang, durch den Wald, auf der rechten Seite des
Flusslaufs.
Plötzlich warst du nicht mehr neben mir, sondern auf der anderen Seite des Wassers.
Ich wollte unbedingt zu dir, also überquerte ich den Flusslauf, das Wasser war sehr
niedrig.
Auf der anderen Seite, so bemerkte ich sehr schnell, waren alle Bäume nicht grün. Sie
waren tot und trugen abgestorbene Äste. Ich bekam Angst. Aber du saßest am Fuß eines
solchen Baums und lächeltest mich an. Du hieltest etwas in der Hand: einen Farbkasten
und einen Pinsel. Da sah ich, wie du schon angefangen hattest, die schwarzen Bäume
grün anzumalen.
Ich hatte trotzdem Angst.
Ich sah hinüber zu einem Körper, der leblos auf dem Boden lag. Der Frauenkörper war
mit Blättern bedeckt. Ich rief dir zu, dass wir hier weg müssen, zurück auf die andere
Seite, aber du lächeltest weiter und knietest dich neben diesen Körper und batest mich,
es auch zu tun. Wir fassten die Frau an den Händen und sprachen so etwas wie ein
Gebet. Und in dem Moment, in dem das Wort „Amen“ fiel, öffnete die Frau ihre Augen
und die Bäume wurden grün.
Alles blühte plötzlich um uns herum und ich war ohne Angst. Wir gingen zurück auf die
andere Seite.

Ich liebe es diesen Weg mit dir zusammen zu gehen. In meinem Traum sah es aus wie in
der Wirklichkeit.
Unser Spaziergang dauert fast zwei Stunden, eine Stunde davon laufen wir durch den Wald, bis
man die See riechen kann.
Ich hake mich immer bei dir unter, wir reden über dies und das, manchmal bleibst du
stehen, wenn etwas sehr wichtig ist, was du mir sagen willst. Wir suchen nicht nach
Steinen und nehmen doch immer wieder welche mit nach Hause. Sie liegen im Haus auf
den Fensterbänken, vor dem Ofen, neben dem Bett. In der Zinkwanne vor dem Haus, in
den Beeten mit den Cosmeen und Rosen, zwischen Lavendel und Hortensien.
Dieser Traum den ich vor ein paar Jahren hatte, symbolisiert für mich einen wichtigen
Teil deines und meines Lebens. Ich bin sehr froh und dankbar, dass du dich irgendwann
auf den Weg begeben hast, auch wenn es der schwierigere, längere und dunklere Weg
war.

Im Winter wenn die Äste kahl sind, die Stämme dunkel bis schwarz, dann kann man die
Moosflechten sehen, wie sie sich über die Wurzeln und die Rinde legen.


Die Bäume sind grün. Immer.

Freitag, 20. November 2015

...



Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, hatte ich ein denkwürdiges Erlebnis:
Ich war allein zu Hause. Es war Mittag und es war ganz still. Es war heiß und ich wollte hinaus auf den Hof gehen. Dazu ging ich eine drei- stufige Treppe hinunter, die zum Flur führte. Gegenüber der Treppe war ein Spiegel angebracht. Ein mittelgroßer, quadratischer Spiegel mit einem dünnen Rahmen aus vergoldeten Zierleisten, an dem ich sicher mehrmals am Tag vorbei lief, ohne mich darin anzusehen.
An diesem Mittag blieb ich auf der zweiten Stufe der Treppe stehen und sah mich ausführlich in diesem Spiegel an. Ich betrachtete mein Gesicht und die Teile meines Körpers, die ich im Spiegelglas sehen konnte. Das war der erste Moment in dem mir bewusst wurde, dass dieser Körper ICH war. Und dass dieser Körper sterblich war. Genauso wie die Körper meiner Mutter, meines Vaters, meiner Brüder sterblich waren. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl tief zu fallen. Der Gedanke, dass ICH ein Körper war, den ich im Spiegel betrachten konnte, der mir zur gleichen Zeit sehr fremd und sehr vertraut vorkam, den ich mit den Augen des „ICH- SEIN“ betrachten oder aber auch mit den Augen eines „Außen“ sehen konnte; dass ICH in dem Körper mit dem Körper sterben würde (so dachte ich damals) und dass ich seiner Willkür ausgeliefert war erschien mir ungeheuerlich und zog mir den Boden unter den Füßen weg.


Ich habe oft die Menschen beneidet, die den Tod einfach nicht sehen (wollen), die die Angst  davor wegschieben können wie einen ungebetenen Gast. Ich konnte das nie. Der Gedanke an den Tod, an die Vergänglichkeit begleitete mich bis etwa zu meinem dreißigsten Lebensjahr.

Im Nachhinein erscheint es mir, als hätte ich mich sehr früh von der Welt zurückgezogen. Dabei spielen sicher noch andere Aspekte eine Rolle, zum Beispiel die unverarbeiteten Kriegstraumata meiner Großeltern die an meine Eltern und über sie an mich weitergegeben wurden; die Tatsache, dass ich bindungsunsicher aufwuchs und vielleicht auch dass meine Mutter Landärztin war und seit ich ein Kind war am Essenstisch darüber redete, was sie auf Leichenschauen erlebt hatte und wie die Menschen um sie herum einfach so oder auch an einer Krankheit mal langsam, mal schnell starben.

Ich denke niemand ist in seiner Kindheit und Jugend, also in der prägendsten Zeit verschont geblieben von mehr oder weniger traumatischen Erlebnissen.
Zum Glück sind Menschen kreativ und suchen instinktiv nach Strategien um das Leben zu sichern.
Meine war, mich von der Welt zurückzuziehen. Das Leben erschien mir als etwas, wovor man Angst haben musste, in dem man unsicher war, „geborgen im Ungeborgenen“.
Halt fand ich in Geschichten, in Romanen und im Schreiben.
In dem ich die Geschichten anderer las, fühlte ich mich getröstet, entdeckte die Vielfalt der menschlichen Seele, sah in Abgründe ohne sie selbst zu erleben und doch mitzugehen. Ich staunte über die Entwicklung bestimmter Figuren, studierte die verschiedensten Möglichkeiten zu leben. Verlor mich in den wildesten Abenteuern- alles ohne selbst zu leben.

Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Leben.

In meiner Jugend fing ich an zu schreiben. Zunächst Gedichte, später hauptsächlich Kurzgeschichten. In den Geschichten fühlte ich mich sehr lebendig.
Ich denke ich schrieb, weil ich verstehen wollte, eine Ordnung schaffen in dem Chaos, das mich umgab. Ich umkreiste beim Schreiben meinen inneren Kern, konnte abdriften, zurück kehren, kreierte Anfänge und Ausgänge. Vielleicht fühlte ich mich so sicher, weil ich es war, die die Geschichte bestimmte. Die die Kontrolle behielt. Die dem Leben nicht mehr schutzlos ausgeliefert war, nicht seiner Willkür, nicht seinen vielen Möglichkeiten.
In dem ich schrieb, lebte ich und in dem ich lebte, starb ich nicht.
Das, so schätze ich, war die unbewusste Strategie, um den Tod bzw. die Angst vor dem Tod zu überwinden.
Diese Haltung bzw. diese Strategie schließt eine gewisse Starre nicht aus. In dem ich meine Lebendigkeit nur in den Geschichten lebe, kann ich nie genau wissen, wie sich etwas wirklich anfühlt.
Ich hatte Sehnsucht danach zu wissen, wie das ist mit dem Fühlen. Diese Sehnsucht führte mich durch die tiefsten Tiefen und durch wunderschöne Höhen, durch Schmerz, Trauer, Liebe. Ich begegnete meiner Angst und meinem Misstrauen. Ich verletzte auf diesem Weg andere Menschen, ich spürte meine tiefsten Wunden. Manchmal bereute ich es, nicht mehr in meiner „Blase“ zu sein. Aber ich kehrte nie wieder in sie zurück.

Mittlerweile hat sich die Sicht auf den Spiegel verändert. Es ist nicht mehr der Spiegel im Flur meiner Kindheit.
Meine Spiegel sind Menschen, Umstände, Bäume, Pflanzen, der Himmel. In dem ich sie anschaue, reflektieren sie auch immer jenen Teil von mir, den ich in ihnen sehen kann. Den ich liebe oder den ich ablehne.
Ich schaue in die Spiegel und erkenne mich. Immer mehr.
Ich schreibe Geschichten. Ich sehe meinen Figuren nicht mehr nur zu, ich beginne sie zu fühlen.
Der Unterschied, nicht aus der Angst heraus zu schreiben, sondern aus dem Herzen ist, dass es die Lebendigkeit nicht mehr ausschließt, ebenso wenig wie die Angst vor dem Tod und vor der Vergänglichkeit. Sie existieren nebeneinander und sind Teil ein und derselben Sache: des Lebens.









Freitag, 13. November 2015

Alter Sommer

Der Sommer war alt& lang.
Wir atmeten das Licht. Innen und Außen.
Im Ungeborgenen geborgen-  ist nicht mehr wahr.
Der See. Sanft. Da wo ich geboren bin.
Ist lange her. So nah. So nah.


Samstag, 5. September 2015

Spiegel im Spiegel


Spiegel im Spiegel
(für Max)

Du siehst in das Gesicht eines Menschen, etwas flammt auf, eine Art Wiedererkennen.
Du siehst in seine Augen wie in einen Spiegel, sie reflektieren das Schönste. Das Schreckliche, wovor du dich immer gefürchtet hast.
Etwas in dir beginnt zu glühen, langsam aber stetig. In deinem Inneren.
Es ist warm. Du fürchtest dich nicht.
Er sieht in deine Augen. Er nennt deinen Namen.
Du siehst: das olivgrün seiner Iris, seinen roten großen lachenden Mund, den leicht hervorstehenden Zahn neben seinem rechten Schneidezahn.
Spiegelverkehrt.
Ihr beginnt euch zu umkreisen, sehr vorsichtig und tastend, nie lasst ihr euch dabei aus den Augen, immer gibt es einen Blick, auch wenn er im Boot hinter dir sitzt und du nur noch das Eintauchen des Paddels hörst.
Das kurze Zurückschauen, das Sich- vergewissern, das Unsichere, das aus der Angst entsteht nicht mehr gesehen zu werden.
Mit dem Blick holst du dich zurück. Du fängst etwas auf. Du nimmst etwas auf, du reflektierst sein Licht, er reflektiert dein Licht.
Am Bug des Bootes ein unsichtbarer Vogel. Ein Schatten, der vorbeifliegt. Sich setzt. Atmet.
Ein Gesicht, das sich stetig wandelt. Ein Mann und  eine Frau. Der kleine Junge mit der gekräuselten Nase, wenn er schallend lacht. Ein alter Mann. Auch ein Mädchen, welches sich schüchtern unter dir bewegt. Welches dich ansieht aus großen, fragenden Augen.
Ein Kuss so sanft wie nur was!
Schweigen.
Wenn du in den Spiegel schaust ist dir, als hätten Salzkristalle die Farbe deiner Iris heller gewaschen. Als hätte sich reine Kreide über die Farben gelegt.
Du siehst ihn an und siehst etwas in dir, was verborgen war. Schlafend.
Den Spiegel im Spiegel.

Dienstag, 17. März 2015

Die Haarnadel




Die Haarnadel lag sehr viele Tage und sehr viele Nächte unter meinem Bett. Jedes Mal, wenn die Katze sie nachts über den Boden kratzen lies und sich in ihr Spiel hineinsteigerte, nahm ich mir vor sie hervor zu holen und in mein Haar zu klemmen oder jedenfalls dahin zu legen, wo sie keine Geräusche machte.
Nach einer fürchterlichen Nacht war es so weit: ich legte mich am Morgen auf den Bauch und sah sie sofort. Weiterhin fand ich: ein Taschentuch, mehrere Haargummis, ein Shirt, was ich schon lange vermisste und dessen Verschwinden ich mir lange nicht erklären konnte und wegen dem ich schon zwei Mal meinen Schrank ausgeräumt hatte, einen Bleistift mit abgebrochener Miene, ein altes Bonbon (grün) und das Foto.
Ich hatte es lange nicht gesehen, wusste aber sofort was auf der Rückseite stand:
I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet
and so cold.


 (Gedicht "This is just to say" von William Carlos Williams)

Mittwoch, 11. März 2015

Synchronizität (2)



Gesendet: Freitag, 15. August 2014 um 12:38 Uhr Von: "Katharina Schwanbeck" > An: ---------Betreff:
..nachts
Letzte Nacht habe ich von Dir geträumt: Wir haben uns zufällig im Tiergarten getroffen, es hat gedämmert und ich habe dich an die Hand genommen und dich mit zu einem Bauwagen im Park genommen. Der Bauwagen war wunderschön und hell erleuchtet mit ganz vielen kleinen Lampen. In diesem Bauwagen saß an einem runden Tisch eine chinesische Wahrsagerin. Sie sah auch sehr schön und klar aus. Als du an der Reihe warst, warst du nicht mehr da.. dein Platz war leer und ich wusste, dass Du weg gelaufen warst... Die chinesische Wahrsagerin hat dann zu mir gesagt, dass sie nichts genaueres bei dir sehen konnte, außer dass der Name "Jennifer" über deinem Kopf hing.  Küsschen von K
 -- Diese Nachricht wurde von meinem Android Mobiltelefon mit GMX Mail gesendet.


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oh wie schön ...
dein Traum hat auch gleich zwei bemerkenswerte Elemente. Zum einen bin ich gestern nach 5 langen und erschöpfenden, aber auch spannenden und intensiven Wochen nach Hause gekommen. Sicher war ich in der Nacht in Gedanken oder Träumen bereits auf dem Weg nach Berlin. Zum anderen #Jennifer#. Hm ... das Wort ist mir tatsächlich in den letzten Wochen oft über die Lippen gekommen. Aber eben das Wort, nicht der Name. Ich war in der Türkei mit einem Wiener Kamerateam unterwegs, was meiner Vorliebe für die bezaubernden Redewendungen der Wiener natürlich gut gefallen hat. So auch zu dem wiener Spezialitäts-Synomym für schnell, fix oder rasch oder dallidalli. Der gemeine Wiener sagt: "Jennifer!" bzw. "... aber Jennifer!" Und wo kommts her? Von Jennifer Rush! Ach ... sind sie nicht herrlich spinnert die guten Wiener? Und jetzt weißt du was das blinkende Jennifer über meinem Kopf zu bedeuten hat. aber woher weiß das dein Traum? ...


Küsse

t


übrigens ...mein zweites neues wiener Lieblingswort ist Dampfplauderer.
Auch hübsch oder?!

Mobiltelefon mit GMX Mail gesendet.

Dienstag, 3. März 2015

Der Spiegel


Ich war etwa sechs oder sieben Jahre alt. Ich ging durch unseren Flur. Es war Mittag, es war Sommer. Ich war allein zu Haus.
Am Ende des Flurs gab es eine drei stufige Treppe die in einen kleineren Flur führte. An der Wand des kleineren Flurs hing ein Spiegel in einem eckigen Holzrahmen. Man konnte sich darin ansehen, wenn man die Treppe hinunter lief.
An diesem Mittag ging ich also den Flur entlang. Ich lief aber nicht, wie sonst, die Treppen hinunter, sondern blieb auf der zweiten Stufe der Treppe stehen. Ich sah mich sehr lange im Spiegel an. Ich betrachtete ausführlich mein Gesicht und sah in meine Augen. In meiner Erinnerung ist das der Moment gewesen, in dem ich zum ersten Mal einen Begriff von „Das bin ich“ hatte. Und dass ich sterblich war. So wie meine Mutter und mein Vater und mein Bruder sterblich waren.
Dieses Gefühl, was ich dabei hatte ist bis heute in meinem Körper, wenn ich daran denke: es ist eine Angst, die bodenlos ist. Ein freier Fall.

Dienstag, 17. Februar 2015

Highway to Hal


Vom Schwimmen in Seen und Flüssen 

Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben
Nur in dem Laub der großen Bäume sausen
Muß man in Flüssen liegen oder Teichen
Wie die Gewächse, worin Hechte hausen.
Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm
Leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt
Wiegt ihn der kleine Wind vergessen
Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält.
Der Himmel bietet mittags große Stille.
Man macht die Augen zu, wenn Schwalben kommen.
Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen
Weiß man: Ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen.
Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm
Wir liegen still im Wasser, ganz geeint
Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen
Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint.
Wenn man am Abend von dem langen Liegen
Sehr faul wird, so, daß alle Glieder beißen
Muß man das alles, ohne Rücksicht, klatschend
In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen.
Am besten ist´s, man hält´s bis Abend aus.
Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt
Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern
Und alle Dinge sind, wie´s ihnen frommt.
Natürlich muß man auf dem Rücken liegen
So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen.
Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als
Gehöre man einfach zu Schottermassen.
Man soll den Himmel anschauen und so tun
Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.
Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut
Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt. (B.Brecht)


Naja, es war nicht direkt ein Highway, eher eine Landstraße in Mecklenburg- Vorpommern, die ich lang fuhr. Ich hatte meinen Cowboyhut aufgesetzt, ich weiß nicht warum. Ich fühlte mich irgendwie sicher unter dem Hut.
Ich hatte seine Adresse über Umwege erfahren, als ich in Berlin nach jemandem suchte, den ich aufsuchen und befragen konnte. Zum Beispiel zum Thema tiergestaltige Geister. Irgendwie interessierte mich das schon immer brennend und ich recherchierte gerade für eine Geschichte, die ich schreiben wollte.
Nach langer Zeit des Umhörens empfahl mir jemand jemanden, den ich anrufen sollte, um die Adresse zu erfragen. Und ich sagte laut, das gibt’s doch nicht, als ich erfuhr dass er in einem Dorf mit drei Häusern im Mecklenburgischen wohnte.

Er nannte sich Hal.
Er saß vor einer Art Bungalow. Das Grundstück drum herum war eingezäunt, also es waren ein paar Pflöcke in den Boden gerammt und diese Pflöcke waren lose verbunden mit Wäscheleinen. An diesen Wäscheleinen hingen bunte Fäden, altes Geschenkband, schätze ich. Die Bänder ließen sich träge vom Wind heben und grüssten freundlich, aber uninteressiert.
Hi, sagte ich.
Hi, sagte Hal.
WillstnKaffee?

Hal war braun. Sehr braun. So braun, dass seine Haut aussah, als wäre sie sehr dick und wasserabweisend. Seine Haare waren blond gefärbt UND ausgeblichen, so weit ich das beurteilen konnte, also fast weiß. Und verfilzt standen sie um seinen Kopf wie ein verknickter Heiligenschein. Seine Augen waren sehr hell und blau und sahen mich durchdringend aus seinem dunklen Gesicht an. Hal trug nur einen Lendenschurz und lila Crocs, was mich etwas verunsicherte, aber seine Halbnacktheit schien kein innerliches Thema für ihn zu sein, so dass seine Körpersouverenität sofort auf mich überging. Er trug seinen großen Bauch so vor sich her, als hätte er darin etwas Besonderes versteckt. Versonnen streichelte er immer wieder über seine Haut, die darüber spannte.
Hal war von der gemütlichen Sorte. Er bewegte sich langsam über den Hof, auf dem er noch Hühner hielt, einen Esel und eine Hündin, die weiß und mystisch durch die Rhododendron und Himbeerbüsche schlich und mich mit ihren Augen aufmerksam beäugte. Die Hühner pickten mit ihren Schnäbeln im Sand herum.

Als Hal mit dem Kaffee zurück kam fragte ich ihn, wie es denn kam dass er Schamane sei- eigentlich sehe er eher aus, wie ein Hippie, aus Deutschland, einer der ausgestiegen sei: Naja, du weißt schon, kein Bock mehr auf Gesellschaft und so.
Ja, genau, antwortete Hal. Mehr sagte er nicht und steckte sich ne selbstgedrehte Zigarette zwischen die Zähne.
Kannst du mir bitte irgendwas von deiner Schamanenkunst zeigen, bat ich ihn, als ich den Kaffee längst ausgetrunken und mich in immer weitere unbeantwortete Fragen verstrickt hatte. Hal sah mich an, lange: Nur wenn ich deinen Hut bekomme.
Aber es ist der schönste Hut, den ich besitze. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn leben kann, sagte ich.
Man kann ohne alles leben, sagte Hal und sein Lächeln kam mir groß und mit schlechten Zähnen entgegen. Es steigerte sich zu einem Lachen und endete in brodelnden Hustengeräuschen von ganz tief unten. Hal zog den Rotz hoch und spuckte auf die heißen Steine. Die weiße Hündin gähnte in einem der Büsche.
In mir fing es an zu fiebern: ich hing an dem Hut, wie der Ast an seinem Baum! Er stammte noch aus der Zeit, als meine Mutter mir erzählte, mein Vater hätte ihn auf einem seiner Reisen über die Flüsse gegen ein paar Flaschen Schlehenschnaps getauscht, um ihn mir zu meinem sechsten Geburtstag zu schicken. Nein, den Hut konnte ich ihm nicht geben, auch wenn ich einsah, dass er dringend eine Kopfbedeckung brauchte, denn die Sonne hatte schon rotbraune Flecken auf die nicht mehr von Haaren gut bedeckte Kopfhaut von Hal gebrannt. Ich wollte ihn über die Risiken direkter Sonneneinstrahlung aufklären, aber dann dachte ich: erstens, dass er’s wissen wird und zweitens ja Schamane ist und sich vielleicht jederzeit selbst heilen kann?
Irgendwann, sah er mich an, nickte mit dem Kopf, strich sich über seinen Bauch und sagte: Komm!

Es dämmerte fast. Das Licht fiel schön golden zwischen den alten Obstbäumen seines Gartens hindurch. Die Rhododendron dufteten als müsse die ganze Welt von ihrer Existenz erfahren. Die weiße Hündin lief selbstverständlich hinter uns her. Manchmal blieb sie plötzlich stehen und starrte zurück. Wohin fahren wir, fragte ich, als er einen Autoschlüssel aus seinem Lendenschurz holte. Hal sah mich an und sagte: nach Hause.
Wir saßen schweigend in seinem Pick Up und fuhren mit 50 Stunden Kilometern durch eine gewundene Allee mit großen alten Bäumen und ich nahm mir mal wieder vor, mehr Baumnamen zu lernen. Rotdorn, sagte Hal, als könne er Gedanken lesen. Du kannst dich jederzeit mit dem Energiekörper eines Baumes verbinden, direkt aus dem Solarplexus. Dein Baum ist übrigens die Kopfweide!
Hä, die Kopfweide? Warum?
Scht! brummte Hal, schüttelte eindeutig mit dem Kopf und zündete sich ne selbstgedrehte an.
Er stoppte den Wagen, nachdem wir links in einen Feldweg eingebogen waren. Ich konnte das Wasser eines Sees schon von weitem riechen. Es roch nach Schlick und Erde. Wir liefen noch ein ziemliches Stück am Ufer entlang. Ich hörte das Gluckern, das die Fische machten, wenn sie kurz an die Wasseroberfläche kamen um nach Fliegen zu schnappen, das Schnattern der Enten im Schilf und den bleichen Haifischhimmel, der tosend in seiner Stille über uns hing.


Ich fühlte mich völlig aufgehoben. Bis sich manchmal mein Kopf einschaltete und darüber nachdachte, dass ich gerade mit einem Mann, den ich erst seit ein paar Stunden kannte, der so gut wie nicht redete und mir noch keine einzige Frage beantwortet hatte, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet gerade dabei war eine Grube auszuheben, die so groß zu werden schien, dass mein Körper genau hinein passte und der scharf auf meinen Hut war ,zusammen war und freiwillig blieb. An einem einsamen See, irgendwo zwischen Weizenfeldern und einem Mischwald! Ich hielt meinen Hut fest und mir kam zu Gute, dass ich mir nur wenig Böses vorstellen konnte und wenn doch, besaß ich einen ausgeklügelten Verdrängungsmechanismus, den ich jederzeit und sofort aktivieren konnte.
Die weiße Hündin lag jetzt so dicht an mir dran, dass ich die Wärme ihrer Haut spüren konnte. Sie gähnte mit weit offenem Maul, um dann ihren Kopf zwischen ihre Pfoten zu legen und verschlafen zu blinzeln. Ich konzentrierte mich auf ihr Herz, dass ich im immer gleichen Rhythmus unter ihrem weißen Fell schlagen sah.

Hal hatte die Grube inzwischen ausgehoben. Er war jetzt dabei ein Steinkreis um die Grube zu legen und Holz für ein Feuer zu sammeln. Das alles geschah sehr langsam, so dass der Himmel bereits tief dunkelblau war, als er das Feuer entzündete.

Er holte mich ab und wir setzten uns in den Kreis.  Ich schaute auf den See. Die Flammen knisterten als würden sie wispern. Wisper, wisper. Die Fische schliefen bereits, denn der See lag jetzt dunkel und glatt und still.
In Hals Fingern raschelte das Zigarettenpapier. Die Dose, die er in der anderen Hand hielt, machte Plopp und Zisch, als er sie mit den Zähnen aufriss und ich bekam auch richtig Lust auf Bier, aber er bot mir einfach keins an, obwohl ich ihn lange und intensiv von der Seite anstarrte, um ihn zu beschwören mir auch eins zu geben. Er rauchte gemächlich bis die Glut ein letztes Mal aufflammte. Er setzte sich hinter mich und hielt seine Hände dicht an meine Wirbelsäule ohne mich zu berühren.. es war als würden die Wirbel beginnen sich zu verschieben, in einer langsamen warmen kreisenden Bewegung.
Als ich mich in den ausgehobenen Sand legte, hielt er meinen Kopf in seinen Händen und wiegte ihn leicht hin und her.
Er begann zu singen in einem tiefen brummenden Ton und ich musste ein bisschen kichern, denn Schamanen mit Bieratem hatte ich mir nicht vorgestellt.

Er stand auf und begann zu rasseln, im Kreis: vor mir, hinter mir, über mir, um mich dann mit dem Sand zu zudecken, der noch warm vom Tag auf meinen Körper fiel.
Die Schwere drückte mich in die Erde. Hal legte mir am Schluss noch ein Tuch über mein Gesicht. Er sagte: in einer halben stunde hole ich dich zurück. Du bist vollkommen sicher. Und ich dachte, wie kann ich solange in dieser Grube liegen.
Ich spürte mein Herz schlagen und Bilder begannen an mir vorbei zu ziehen, schöne und schreckliche, traurige, aufgewühlte, bis mein Körper sich entspannte.

Als ich aufwachte, dämmerte der Morgen. Der Haifischhimmel war zurückgekehrt und wartete noch einen Moment, bevor er das Licht frei lies.
Der Steinkreis war verschwunden, nur die Glut des Feuers glimmte noch. Die Decke, die über mir lag war klamm und die Fische hatten ihr Leben wieder aufgenommen.
Hal war nicht mehr da.
Meine Haut war voll von Sand, ich rieb mir das Gröbste herunter, zog mein Kleid über den Kopf und lief in den blassgrünen See. Unter Wasser schwebten meine Haare wie Seetang um meinen Kopf. Ich schwamm ein paar tiefe Züge in der Hoffnung einem Hecht zu begegnen und dann drehte ich mich auf den Rücken, breitete die Arme aus und schaute in die aufbrechende Sonne. Oh ja, ich war zu Hause! Nenn mich pathetisch! Aber das Leben schoss durch meinen Körper wie eine Zentrifuge!

Konnte das wirklich sein, dass ich alles nur geträumt hatte?
Ich suchte meinen Hut überall und machte mich schließlich auf den Weg, von dem ich sicher war, ihn gestern Abend mit Hal gegangen zu sein.
In mir war es ruhig. Ich konnte es nicht verstehen, denn schließlich war mein Hut weg und ich hatte mir wahrscheinlich einen Schamanen eingebildet, der mich in einer Grube verbuddelt hatte.

Da wo ich den Pick Up vermutete stand mein Auto. Der Schlüssel steckte. Die Hitze im Auto umschloss mich wie ein Freund. Ich fuhr zurück auf die Landstraße. Ich fuhr langsam, denn ich zweifelte  immer noch an meinem Verstand.
Und als ich mein Blick schweifen lies, sah ich sie plötzlich: wie ihr Fell weiß durch die Bäume schimmerte. Sie überquerte die Straße etwa fünfhundert Meter vor mir, ich bremste ab, sie blieb stehen, sah mich an, ein paar Sekunden vielleicht, bevor sie auf der anderen Seite in den weiten Weizenfeldern verschwand.
 


Donnerstag, 12. Februar 2015

Rote Haare



(für K. In<3!)

Sie hatte mal einen Freund, der war Russe und nannte sie „Rote Haare“, dabei rollte er das R wunderschön, wie sie nicht müde wurde zu erzählen. Und sie sagte: das ist der den ich heiraten würde, sofort! Das hatte sie noch nie gesagt, denn sie war ein sehr freies Mädchen, auch damals schon. Es war Nacht, als sie es mir erzählte. Die Wellen schlugen gegen Felsen und irgendeiner von den Hippies spielte Gitarre.
Sie kann wunderbar romantisch sein, meine Freundin und am nächsten Morgen verliebt sie sich in den Hippie mit der Gitarre! Trotzdem sind ihre Gefühle tief. Glaubste nicht? Kannste aber!!
Sie schläft an Stränden und in Bussen. Sie baut Terrassen vor Fenster. Sie baut Plattenspieler in Koffer. Sie lacht viel und manchmal ist sie traurig. Dann aber richtig! Sie wiegt ihr Mädchen in den Schlaf, sie tanzt nächtelang hoch über dem Abgrund und schaut dabei auf’s Meer. Sie ist stark und manchmal ganz schwach, aber das glaubt dann nur sie.  Sie verreist wochenlang und hat 50 Euro in der Tasche.
Wenn sie ein Element wäre, dann Erde!
Geheime Reisetagebücher schreiben wir. Manchmal lesen wir ausgewählten Leuten daraus vor. Wir können uns immer wieder die alten Geschichten erzählen, alte Witze auch. Wir weinen vor Rührung über den gleichen Kitsch (zum Beispiel gern bei dem Lied „Ich liebe dich“ von Clowns und Helden...irgendwie ist es uns peinlich und dann müssen wir lachen. Den Text können wir auswendig!).
Als wir uns in der 7. Klasse kennenlernten, war ihr Lieblingsdichter Heinz Kahlau. Dann auch meiner. Und Sarah Kirsch.
Wenn sie lacht, leuchtet ihr ganzes Wesen.
Sie erkennt in jedem Menschen das Schöne, das nur zur ihr/zu ihm gehört. Das können nicht viele. Sie liebt bedingungslos.
Sie trägt immer nur Röcke und Kleider. Nur ein einziges Mal hab ich sie in einer Hose gesehen. Das war in Leipzig!
Wenn ich widersprüchlich bin, dreht sie mir daraus keinen Strick.
Auf ihrem Handgelenk steht: Ich will lieben, solange ich lebe!


Samstag, 7. Februar 2015

Synchronizität


Synchronizität





Vor drei Jahren fahre ich mit alten Zügen durch die Ukraine bis nach Odessa. Häufig reise ich mit Nachtzügen, schlafe in alten Waggons. Jeder Waggon hat seinen Zugbegleiter. Dieser brüht Tee im Samowar, verkauft heimlich Bier und weckt morgens die Passagiere. Ich liege zwischen alten Frauen, Hühnern und oft auch betrunkenen Männern.
Ich bleibe vier Tage in Odessa- meine letzte Station auf dieser Reise. Ich laufe und fahre mit der Tram durch die Stadt und übernachte in einem alten Hotel mit langen u- förmigen Fluren. Niemand spricht englisch. Ich spreche weder russisch, geschweige denn ukrainisch. Die Hoteldame ist sehr unfreundlich. An einem Morgen gegen fünf, höre ich kräftiges, schnelles Schlagen gegen meine Tür: drei Männer stehen plötzlich im Raum- sie sagen nichts, sondern holen ein Kinderbett, welches im Nebenzimmer steht, heraus und lassen die Tür wieder laut ins Schloß fallen.
An meinem letzten Abend dann überfällt mich unerwartet eine massive Angst. Ich gehe zurück zum Hotel und denke stundenlang, dass ich krank bin und vielleicht in eines der Krankenhäuser muss und mir dort niemand helfen kann, weil ich nicht verstanden werde. Da ich ukrainische Krankenhäuser fotografiert habe auf meiner Reise, weiß ich, dass es nicht ratsam ist sich dort in irgendeiner Weise aufzuhalten. Die Krankenhäuser wirken wie kurz nach dem Krieg. Ich steigere mich immer weiter in eine Panik. Als es wieder hell wird, schlafe ich endlich ein.

Zeitgleich trifft meine Mutter meinen Vater wieder- in Deutschland, nach dreißig Jahren. Ich weiß davon nichts.
Später, als ich wieder zurück bin, wird sie mir von diesem Treffen erzählen. Sie wird mir erzählen, dass er die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen hat, in Kiew lebt und oft in Odessa ist, weil er dort ein Haus baut. Sie wird mir erzählen, dass er sein Geld damit verdient, gebrauchte medizinische Geräte aus Deutschland einzukaufen. Diese verkauft er dann an ukrainische Krankenhäuser. Er erzählt ihr, dass die medizinische Versorgung nach wie vor schlecht ist. Dass es nicht ratsam ist, sich dort in irgendeiner Weise aufzuhalten.





Montag, 2. Februar 2015

"The Return of the Rivers"


           CONTENTS
All the rivers run into the sea;
yet the sea is not full;
unto the place from whence the rivers come,
thither they return again.

 It is raining today
 in the mountains. 
 
It is a warm green rain
with love
in its pockets
for spring is here,
and does not dream
of death.
         Birds happen music
         like clocks ticking heaves
         in a land
         where children love spiders,
         and let them sleep
         in their hair.

        A slow rain sizzles
        on the river
       like a pan
       full of frying flowers,
       and with each drop
       of rain
       the ocean
       begins again."
 


          (aus: Richard Brautigan "The Return of the Rivers")

Gestern war ich an deinem Grab. Ich war bisher nur einmal dort, das ist Jahre her, so dass ich nicht mehr wusste, wo dein Grab war, nur ungefähr wo. Ich wusste noch, dass du kein Grabstein hattest oder bilde ich mir das ein?

Immer wenn ich nach G. komme und in diese Stadt rein fahre, möchte ich kotzen.
Es überfällt mich augenblicklich eine Schwere und eine komatöse Müdigkeit. Die Häuser, die Straßen, die Menschen- alles ist Sumpf. Und ich frage mich ist es deshalb, weil ich hier oft unglücklich war und das Unglück mich wie eine alte Bekannte sofort begrüsst oder ist die Stadt wirklich so übel, wie sie rüberkommt?
Ich hatte mal einen Schamanen kennengelernt. Wir fuhren mit dem Auto über die Landstraßen und als wir kurz vor der Stadt waren, sah er mich an und sagte, dass er tausende unerlöste Seelen sieht, wie sie dunkel und schwer über der Stadt hängen. Ich glaubte ihm sofort!

Ich hatte mir nicht vorgenommen, dich dieses Mal zu besuchen. Das wollte ich ja schon oft und habe es immer wieder verschoben.

Gestern dann fuhr ich einkaufen mit dem Auto meiner Mutter. Es war kalt, aber die Sonne schien ein bisschen.
Schon als ich aus dem Auto stieg und über den Parkplatz zum Supermarkt lief, glotzten die Leute mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Einige blieben sogar stehen und drehten sich nach mir um. Sie sahen mich an aus gehässigen, bitteren Gesichtern. Zombies in beige- und graufarbenen Jacken!
Ich kaufte ein für das Mittagessen, das ich kochen wollte und rote Tulpen.
Als ich wieder im Auto saß wusste ich, dass ich jetzt zu dir fahren würde. Heute war der Tag. Ich wollte mich nicht noch einmal drücken.
Ich hielt auf dem schmalen Parkstreifen vor dem Friedhof. Als ich durch das Friedhofstor trat, beschleunigte sich mein Herzschlag augenblicklich. Ich war aufgeregt, wie vor einem Date mit dir.
Es begann zu schneien. Der Friedhofsgärtner fuhr an mir vorbei mit allerlei Geäst auf dem Anhänger. Ich lief ihm hinterher, um zu fragen wo du liegst. Ich hatte Angst, dich nicht mehr zu finden. Der Friedhofsgärtner war jung, vielleicht fünfundzwanzig. Seine Wangen glühten rot von der Kälte. Er trug keine Mütze, nur eine Latzhose und eine wattierte Jacke. Ich nannte ihm deinen Namen und er schüttelte mit dem Kopf: Sagt mir nichts. Ich erzählte ihm, dass ich vor vielen Jahren hier war und dich links oben hinter dem kleinen Hügel vermutete. Ich fragte ihn, ob es einen anonymen Friedhofsteil gibt, denn ich erinnerte mich plötzlich an deinen Wunsch, anonym begraben zu werden. Das hattest du in deinem letzten Brief geschrieben.
So was ham wir hier nicht, sagte der Gärtner und lächelte mich freundlich an. Ich konnte mir vorstellen, dass deine Eltern das auch nicht übers Herz gebracht hätten.
Der Gärtner ging in ein kleines Häuschen, wahrscheinlich das Büro, er schlug deinen Namen nach und kam wieder heraus, machte den Motor seines Autos aus und ging schweigend vor mir her, um mich zu dir zu bringen. Seine Schritte waren groß und ich hatte Mühe mit ihm mitzuhalten.
Die roten Tulpen hielt ich fest in der Hand. Wir liefen den Hauptweg entlang, dann links, so wie ich gedacht hatte. Wir liefen durch die Reihen und ich wusste: Hier bist du nicht. Mein Herz schlug sehr gleichmäßig. Der Gärtner stellte sich wieder auf den Hauptweg und rief laut den Namen eines Mannes in die Stille. Mein Chef. Er sah mich an und lächelte wieder so freundlich. Ich fragte mich, wo er sein sollte, denn ich sah niemanden. Weder auf dem Weg, noch zwischen den Gräbern. Mittlerweile schneite es so stark, dass auch die letzten Besucher gegangen waren. Ein paar Minuten später, tauchte ein Mann auf. Er nickte mir zu und ich sagte, dass ich dich suchen würde. Er nickte und brachte mich sofort zu dir. Je näher ich dir kam, desto schneller schlug mein Herz. Du lagst da, wo ich dich vor zwanzig Jahren das einzige und letzte Mal besucht hatte.
Wusste der Mann von dir? Kannte er deine Geschichte? Reimte er sich zusammen, wer ich war?

Und dann stand ich da vor deinem Grab. Es sah schön aus. Wie ein Bett mit einer Buchshecke drum herum . Weidenkätzchen über dem Stein, auf dem nur dein Vorname steht. Du hattest so einen schönen Namen! Einen Namen, der so gut zu dir passte. Die Weidenkätzchen also über deinem Kopf. Moos als Decke über deinem Körper. Die Bepflanzung sah aus wie ein Körper. Hatte deine Mutter es so gedacht? Ich legte die Tulpen auf dein Herz.
Na klar musste ich weinen! Ich stellte mir vor, meine Tränen fielen wie im Märchen auf die gefrorene Erde und tauen dich auf da ganz tief unten. Ich fühl mich dir immer noch nah. Auf einmal bin ich wieder fünfzehn. Ich spreche mit dir ohne mir blöd dabei vorzukommen. Ich schaue zu dir herunter und dann in die chaotischen Flocken. Mir ist nicht schwer. Mir ist plötzlich ganz leicht.

Als ich gehe hört es auf zu schneien. Ich laufe den Hauptweg entlang und drehe mich noch einmal um, um mir deinen Platz zu merken. Du liegst hinter den „zwei Schwestern“ so nenne ich die hohen, langen Bäume. Und ich weiß, dass ich dich jederzeit wieder finden kann. Das beruhigt mich.

Es ist, als bist du jetzt ein bisschen bei mir. Ich bilde mir ein, deine Anwesenheit zu fühlen oder die Sehnsucht danach.
Würden wir uns noch kennen, wenn du noch da wärst?
Du wärst jetzt sechsunddreißig. Ein Jahr älter als ich. 


Dienstag, 27. Januar 2015

August


(Bitte vor dem Lesen auf das Video klicken und die Musik dabei hören!) 


Es war ein kalter Sommer. Es regnete viel.
Ich wohnte damals in einer alten Wohnung mit zwei Zimmern, die ich von Herrn Kuklinski übernommen hatte. Er hatte über dreißig Jahre in der Wohnung gelebt, sich eine Dunkelkammer in der ehemaligen Vorratskammer eingerichtet, um seine Fotos selbst zu entwickeln. Sogar ein Radio hatte er an die Wand montiert. Einen alten Weltempfänger. Ich hatte alles so gelassen, wie es war. Herr Kuklinski trank ungesund viel, erzählten die Nachbarn. Am Ende schaffte er es nicht mal mehr raus in die Kaufhalle. Seine Tochter holte ihn ab und nahm ihn mit. Sie lebte irgendwo in Süddeutschland.
All meine Fenster gingen zum Hinterhof raus. Der Hinterhof war wild und grün und ich konnte die Äste der Linde berühren, wenn ich das Fenster öffnete.
Wir lagen viel herum in diesem Sommer. Wir redeten und  aßen und rauchten und tranken Wein und Tee in meinem Bett.

Wir hatten uns im Einführungsseminar Philosophie kennengelernt. Es ging um den Marxismus.
Martin hatte mich nach einer Vorlesung angesprochen. Während der Vorlesung hatte er hinter mir gesessen. Mir war, als pustete mir jemand ab und zu in den Nacken, aber sicher war ich mir nicht.
Wir hatten uns ein paar Mal geküsst, was sehr schön war und festgestellt, dass das trotzdem nichts würde mit uns.  Wir mochten uns. Und trafen uns viel. Und dann kam Karol dazu. Martin hatte ihn mitgenommen zu mir, eingeladen ohne mich zu fragen. Karol war ganz still und sagte am Anfang kaum etwas. Er war so altmodisch in seiner Art und trug die Hemden seines Großvaters auf. Seine Hosen waren immer ein Stück zu kurz. Er sah aus wie aus der Zeit gefallen und trank am liebsten kräftigen schwarzen Tee mit frischer Zitrone. Wir drei entwickelten eine große Nähe in diesem Sommer, wir verließen ja fast nicht mehr das Haus. Martin begann jeden Tag für uns zu kochen und einzukaufen. Karol suchte die Musik aus, denn er konnte es schlecht ertragen, wenn Martin oder ich das taten.  Wenn Martin und ich die „Moorsoldaten“ sangen und das am liebsten laut und schmetternd, dann konnten wir Karol die Wut ins Gesicht zaubern, von einer Sekunde auf die andere!
Ein Tag im August werde ich wie ein sich langsam bewegendes Foto in Erinnerung behalten:
Wir hatten die ganze Nacht geredet, ich kann mir nicht mehr vorstellen über was, Martin diskutierte so gern und verlor sich oft in ausschweifenden Monologen. Alle waren wir übermüdet, es wurde langsam hell, im Zimmer hing der Rauch unserer Zigaretten der letzten Nacht und ich ging zum Fenster und öffnete es. Wir drei lagen da in einer blauen Stille, draußen rauschte der Wind in den Blättern und der Regen ging leicht. Karol drehte sich mit dem Oberkörper aus dem Bett, um den Tonarm des Plattenspielers auf die Platte zu legen. Wir lagen und hörten zu. Als die Gnossienne  No.3 von Satie begann, war es im Zimmer stiller als still. Nur durch die Musik. Draußen die Linde war so unwirklich grün. Das Licht des beginnenden Morgens fiel milchig durch die Vorhänge, die halb vor dem geöffneten Fenster hingen. Karol und Martin atmeten tief und gleichmäßig. Sie schliefen und nur ich war noch wach. Ein müdes Wachsein, wo Traum fast nicht mehr von Wirklichkeit zu unterscheiden ist, wo Dinge zu mäandern beginnen. Der Kater lag gegenüber auf einem der Sessel und blinzelte mir aus verschlafenen, orangefarbenen Augen zu.


Ein Jahr später schrieb mir Karol Karten aus Spanien. 
Einmal bekam ich eine Karte aus China. Aber das war später...

Dienstag, 20. Januar 2015

Leichtmatrose



Mein Vater war Matrose. Er schipperte mit Schiffen über das schwarze Meer bis nach Odessa.
Vorher war er lange Jahre Flussschiffer gewesen. Der Lastkahn, auf dem er elf Jahre die alte Elbe rauf und runter fuhr, hieß „Dicke Marie“. Träge war die, ganz träge, sagte er immer wieder, so wie ich. Dann lächelte er sein seltsames Lächeln, das man nur als Lächeln identifizieren konnte, wenn man ihn gut kannte. Er lächelte immer nur kurz, denn mein Vater war ein ernsthafter Mensch.
So ernsthaft, dass die Melancholie sich unerwartet wie Nebel über seine Augen legen konnte, so dass das Braun seiner Iris ins grün- wässrige kippte. Melancholisches regengrün, so nannte ich die Farbe seiner Augen.
Mein Vater war ein stiller Mensch. Er mochte keine Gesellschaften. Am liebsten stand er vor Sonnenaufgang auf seinem Kahn ganz vorn am Bug und schaute auf den dunklen Fluss. Dann verlor er sich im Anblick des Wassers und dachte immer daran, dass alles vergänglich war. Das war schon so, als er ein Kind war. Das zwanghafte Denken an die Vergänglichkeit schob er dem russischen Blut zu, welches zur Hälfte durch seine Adern floss. Das kann man nicht verleugnen, sagte er oft- wie zu sich selbst. Aus den Gedanken an die Vergänglichkeit konnte er sich nur durch körperliche, stundenlange Arbeit retten. Er schippte die Kohlen in den Schlund des Ofens, er hielt den Kahn in Stand, besserte Roststellen aus, strich rissige Stellen über, entlud die Fracht, kochte, schleuste, flickte das Tauwerk, schrubbte die Küche unter Deck, schrubbte die Böden an Deck, belud den Kahn und zwischendurch stand er mit dem Rücken ans Führerhaus gelehnt, die Bugwelle betrachtend und rauchte eine seiner vielen Zigaretten.
Den einzigen Menschen, den er gern hatte neben seiner Frau und mir, war der olle Hans, den er all die Jahre auf der Marie begleitete. Der olle Hans war der Schiffsführer und lebte achtern in einer kleinen Wohnung, in die er sich meist nach dem Abendessen zurückzog. Auch er war nicht sehr gesprächig und duldete die Sehnsucht nach Einsamkeit meines Vaters und ließ ihn nach Möglichkeit in Ruhe. Das schätzte mein Vater sehr an ihm.
Mein Vater lebte in einem kleinen Zimmer vorunter. Seine Koje war sehr schmal. Ein Fenster gab es nicht. Stell Dir eine kleine Höhle vor, in die du vor Allem fliehen kannst!
Manchmal tranken oller Hans und er zusammen einen Schnaps. An kalten Herbsttagen, wenn es ungemütlich war auf dem Kahn und der Nieselregen an den Nerven zerrte. Selbstgebrannter aus Schlehen aus Hansens Garten. Dann konnte es vorkommen, dass mein Vater auch mal lachte. Kurz und laut. Ein kleiner heftiger Ausbruch. Und dann war auch wieder gut. Meist für Wochen.
Mein Vater konnte mich gut im Arm halten. Er war zwar still und sprach nicht viel mit mir, wenn er an Land war, aber ich war gern in seiner Nähe. Er roch nach Wasser und Kohle und Tabak. Ich schaute gern in seine traurigen Augen. Seine Augen traurig, sein Blick liebevoll. Wenn er mir- selten zwar- von seinen Fahrten auf der Marie erzählte, erzählte er so als wäre Marie ein Mensch. Seine Hände waren groß und rissig von der Arbeit. Kohlestaub und Teer hatten sich unter den Nägeln festgesetzt. Manchmal strich er mir mit seinen Händen über das Haar. Er nannte mich Tochter. 
Er blieb immer zurück auf Flüssen und Meeren und manchmal stelle ich mir vor, es gäbe sie wirklich, die "Dicke Marie" und ich könnte ihm zuwinken, wenn er vorn steht am Bug und eine seiner vielen Zigaretten raucht.