Dienstag, 20. Januar 2015

Leichtmatrose



Mein Vater war Matrose. Er schipperte mit Schiffen über das schwarze Meer bis nach Odessa.
Vorher war er lange Jahre Flussschiffer gewesen. Der Lastkahn, auf dem er elf Jahre die alte Elbe rauf und runter fuhr, hieß „Dicke Marie“. Träge war die, ganz träge, sagte er immer wieder, so wie ich. Dann lächelte er sein seltsames Lächeln, das man nur als Lächeln identifizieren konnte, wenn man ihn gut kannte. Er lächelte immer nur kurz, denn mein Vater war ein ernsthafter Mensch.
So ernsthaft, dass die Melancholie sich unerwartet wie Nebel über seine Augen legen konnte, so dass das Braun seiner Iris ins grün- wässrige kippte. Melancholisches regengrün, so nannte ich die Farbe seiner Augen.
Mein Vater war ein stiller Mensch. Er mochte keine Gesellschaften. Am liebsten stand er vor Sonnenaufgang auf seinem Kahn ganz vorn am Bug und schaute auf den dunklen Fluss. Dann verlor er sich im Anblick des Wassers und dachte immer daran, dass alles vergänglich war. Das war schon so, als er ein Kind war. Das zwanghafte Denken an die Vergänglichkeit schob er dem russischen Blut zu, welches zur Hälfte durch seine Adern floss. Das kann man nicht verleugnen, sagte er oft- wie zu sich selbst. Aus den Gedanken an die Vergänglichkeit konnte er sich nur durch körperliche, stundenlange Arbeit retten. Er schippte die Kohlen in den Schlund des Ofens, er hielt den Kahn in Stand, besserte Roststellen aus, strich rissige Stellen über, entlud die Fracht, kochte, schleuste, flickte das Tauwerk, schrubbte die Küche unter Deck, schrubbte die Böden an Deck, belud den Kahn und zwischendurch stand er mit dem Rücken ans Führerhaus gelehnt, die Bugwelle betrachtend und rauchte eine seiner vielen Zigaretten.
Den einzigen Menschen, den er gern hatte neben seiner Frau und mir, war der olle Hans, den er all die Jahre auf der Marie begleitete. Der olle Hans war der Schiffsführer und lebte achtern in einer kleinen Wohnung, in die er sich meist nach dem Abendessen zurückzog. Auch er war nicht sehr gesprächig und duldete die Sehnsucht nach Einsamkeit meines Vaters und ließ ihn nach Möglichkeit in Ruhe. Das schätzte mein Vater sehr an ihm.
Mein Vater lebte in einem kleinen Zimmer vorunter. Seine Koje war sehr schmal. Ein Fenster gab es nicht. Stell Dir eine kleine Höhle vor, in die du vor Allem fliehen kannst!
Manchmal tranken oller Hans und er zusammen einen Schnaps. An kalten Herbsttagen, wenn es ungemütlich war auf dem Kahn und der Nieselregen an den Nerven zerrte. Selbstgebrannter aus Schlehen aus Hansens Garten. Dann konnte es vorkommen, dass mein Vater auch mal lachte. Kurz und laut. Ein kleiner heftiger Ausbruch. Und dann war auch wieder gut. Meist für Wochen.
Mein Vater konnte mich gut im Arm halten. Er war zwar still und sprach nicht viel mit mir, wenn er an Land war, aber ich war gern in seiner Nähe. Er roch nach Wasser und Kohle und Tabak. Ich schaute gern in seine traurigen Augen. Seine Augen traurig, sein Blick liebevoll. Wenn er mir- selten zwar- von seinen Fahrten auf der Marie erzählte, erzählte er so als wäre Marie ein Mensch. Seine Hände waren groß und rissig von der Arbeit. Kohlestaub und Teer hatten sich unter den Nägeln festgesetzt. Manchmal strich er mir mit seinen Händen über das Haar. Er nannte mich Tochter. 
Er blieb immer zurück auf Flüssen und Meeren und manchmal stelle ich mir vor, es gäbe sie wirklich, die "Dicke Marie" und ich könnte ihm zuwinken, wenn er vorn steht am Bug und eine seiner vielen Zigaretten raucht.




2 Kommentare:

  1. Deine Geschichten gehen mir sehr nah. Du schreibst, es sind erfundene Geschichten einer erfundenen Biografie. Und doch wird Kaszka mit jeder Geschichte mehr zu einer richtigen Person mit Freunden, Eltern und einer sehr persönlichen, melancholischen Art, sich an früher zu erinnern. Bei deinem "Leichtmatrosen" musste ich an den Binnenschiffer in Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe denken. Ich freu mich schon auf den nächsten Biografie-Splitter.

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  2. Schweigsamkeit, Nieselregen, die eigene Vergänglichkeit gegenüber der unendlichen Weite des Meeres: ich bin eigentlich kein See-Mensch und fühle mich doch total angezogen. Haben wir alle mal einen solchen Vater gehabt?

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