Dienstag, 27. Januar 2015

August


(Bitte vor dem Lesen auf das Video klicken und die Musik dabei hören!) 


Es war ein kalter Sommer. Es regnete viel.
Ich wohnte damals in einer alten Wohnung mit zwei Zimmern, die ich von Herrn Kuklinski übernommen hatte. Er hatte über dreißig Jahre in der Wohnung gelebt, sich eine Dunkelkammer in der ehemaligen Vorratskammer eingerichtet, um seine Fotos selbst zu entwickeln. Sogar ein Radio hatte er an die Wand montiert. Einen alten Weltempfänger. Ich hatte alles so gelassen, wie es war. Herr Kuklinski trank ungesund viel, erzählten die Nachbarn. Am Ende schaffte er es nicht mal mehr raus in die Kaufhalle. Seine Tochter holte ihn ab und nahm ihn mit. Sie lebte irgendwo in Süddeutschland.
All meine Fenster gingen zum Hinterhof raus. Der Hinterhof war wild und grün und ich konnte die Äste der Linde berühren, wenn ich das Fenster öffnete.
Wir lagen viel herum in diesem Sommer. Wir redeten und  aßen und rauchten und tranken Wein und Tee in meinem Bett.

Wir hatten uns im Einführungsseminar Philosophie kennengelernt. Es ging um den Marxismus.
Martin hatte mich nach einer Vorlesung angesprochen. Während der Vorlesung hatte er hinter mir gesessen. Mir war, als pustete mir jemand ab und zu in den Nacken, aber sicher war ich mir nicht.
Wir hatten uns ein paar Mal geküsst, was sehr schön war und festgestellt, dass das trotzdem nichts würde mit uns.  Wir mochten uns. Und trafen uns viel. Und dann kam Karol dazu. Martin hatte ihn mitgenommen zu mir, eingeladen ohne mich zu fragen. Karol war ganz still und sagte am Anfang kaum etwas. Er war so altmodisch in seiner Art und trug die Hemden seines Großvaters auf. Seine Hosen waren immer ein Stück zu kurz. Er sah aus wie aus der Zeit gefallen und trank am liebsten kräftigen schwarzen Tee mit frischer Zitrone. Wir drei entwickelten eine große Nähe in diesem Sommer, wir verließen ja fast nicht mehr das Haus. Martin begann jeden Tag für uns zu kochen und einzukaufen. Karol suchte die Musik aus, denn er konnte es schlecht ertragen, wenn Martin oder ich das taten.  Wenn Martin und ich die „Moorsoldaten“ sangen und das am liebsten laut und schmetternd, dann konnten wir Karol die Wut ins Gesicht zaubern, von einer Sekunde auf die andere!
Ein Tag im August werde ich wie ein sich langsam bewegendes Foto in Erinnerung behalten:
Wir hatten die ganze Nacht geredet, ich kann mir nicht mehr vorstellen über was, Martin diskutierte so gern und verlor sich oft in ausschweifenden Monologen. Alle waren wir übermüdet, es wurde langsam hell, im Zimmer hing der Rauch unserer Zigaretten der letzten Nacht und ich ging zum Fenster und öffnete es. Wir drei lagen da in einer blauen Stille, draußen rauschte der Wind in den Blättern und der Regen ging leicht. Karol drehte sich mit dem Oberkörper aus dem Bett, um den Tonarm des Plattenspielers auf die Platte zu legen. Wir lagen und hörten zu. Als die Gnossienne  No.3 von Satie begann, war es im Zimmer stiller als still. Nur durch die Musik. Draußen die Linde war so unwirklich grün. Das Licht des beginnenden Morgens fiel milchig durch die Vorhänge, die halb vor dem geöffneten Fenster hingen. Karol und Martin atmeten tief und gleichmäßig. Sie schliefen und nur ich war noch wach. Ein müdes Wachsein, wo Traum fast nicht mehr von Wirklichkeit zu unterscheiden ist, wo Dinge zu mäandern beginnen. Der Kater lag gegenüber auf einem der Sessel und blinzelte mir aus verschlafenen, orangefarbenen Augen zu.


Ein Jahr später schrieb mir Karol Karten aus Spanien. 
Einmal bekam ich eine Karte aus China. Aber das war später...

1 Kommentar:

  1. Eine schöne Idee, Satie vorneweg zu stellen. So kam ich sofort in die richtige Lesestimmung für deine Erinnerung an die Nächte mit Martin und Karol.

    AntwortenLöschen